Zum Beispiel Wissenschaftsasyl: unter_bau fordert Solidarität mit türkischen Hochschulangehörigen

Zum Beispiel Wissenschaftsasyl: unter_bau fordert Solidarität mit türkischen Hochschulangehörigen

Bereits Ende April hatte der unter_bau dazu aufgerufen, sich mit den türkischen Akademiker_innen zu solidarisieren, die sich aufgrund eines Aufrufs zur friedlichen Lösung des “Kurdenkonflikts” enormer Repression ausgesetzt sehen (Petition siehe hier). Indessen hat das staatliche Vorgehen gegen unliebsame Hochschulangehörige eine neue Dimension erreicht, wobei der Regierung der jüngste Putschversuch als Vorwand dient. Unsere Gewerkschaftsinitiative solidarisiert sich mit den von den „Säuberungen“ Betroffenen in der Türkei und fordert die Goethe-Universität unter anderem dazu auf, Solidaritätsmaßnahmen zugunsten von betroffenen Kolleg_innen und Kommiliton_innen zu ergreifen.

Der Trend geht zum Autoritarismus. Nicht nur sind rechte Bewegungen in zahlreichen Ländern auf dem Vormarsch, in einigen Staaten haben sie bereits die Macht inne und bauen das politische System in autoritärer Weise um. So etwa in Ungarn oder Polen – und besonders unzweideutig in der Türkei. Seit dem mutmaßlichen Putschversuch des Militärs Mitte Juni, dessen Hintergründe immer noch unklar sind, nutzt die Regierung um Staatspräsident Erdoğan und Ministerpräsident Yıldırım die Gunst der Stunde, um ihre Macht weiter zu festigen. Nicht wenige Beobachter_innen sprechen dabei vom Aufbau einer Diktatur.

Die Ambitionen Erdoğans, ein autoritäres Präsidialregime zu errichten, sind allseits bekannt. Unverhohlen werden sie schon seit geraumer Zeit zur Schau gestellt, etwa indem die Regierung mit allen erdenklichen Mitteln gegen Kritiker_innen vorgeht, die Opposition auszuschalten versucht und gar den Bürgerkrieg im Osten der Türkei wieder anheizte, um sich bei den Neuwahlen die absolute Mehrheit zu sichern. Und nun, infolge des Putschversuchs, wird dieses Vorgehen weiter verschärft. Ausgestattet mit Sondervollmachten, vollzieht die Regierung eine großangelegte „Säuberung“, wie sie es selbst nennt.

“Säuberung” – ganz unverhohlen

Betroffen davon sind keineswegs nur Anhänger_innen der sogenannten Gülen-Bewegung, die der Staat für den Putschversuch verantwortlich macht. Die Ausmaße der „Säuberung“ weisen darauf hin – und zahlreiche Berichte bestätigen dies –, dass sämtliche Kreise betroffen sind, die nicht als linientreu eingestuft werden. Ohnmächtig müssen wir hierzulande zuschauen, wie Tausende im Gefängnis landen und zahlreiche mehr ihrer beruflichen Existenz beraubt werden. Die Einschnitte in der türkischen Gesellschaft und Politik werden gewaltig sein und das Land in eine Richtung bringen, die so schnell nicht wieder umkehrbar ist.

Während diese Zeilen geschrieben werden, sollen über 10.000 Verhaftungen stattgefunden haben, darunter nicht nur Militärangehörige, Richter und Staatsanwälte, sondern auch Menschen, die sich lediglich in sozialen Medien kritisch gegenüber der Regierung geäußert haben. Ferner sind über 50.000 Menschen aus ihren Stellen entlassen worden. Betroffen davon sind alle Bereiche: das Militär, die Polizei, die Nachrichtendienste, die Justiz, die Verwaltung, die Ministerien, die Medien, religiöse Institutionen und Staatsbetriebe. Vor allem aber säubert die Regierung den Bildungs- und Wissenschaftsbereich.

So wurden im Bildungsbereich 15.000 Lehrer_innen und Beamte suspendiert und wurde 21.000 Privatschullehrer_innen die Lehrberechtigung entzogen. An den Hochschulen wiederum wurden über 1.500 Dekane und Rektoren zum Rücktritt gezwungen, während zahlreiche Wissenschaftler_innen in den Zwangsurlaub geschickt wurden. Zugleich wurde ein Ausreiseverbot für Wissenschaftler_innen verhängt und wurden Akademiker_innen im Ausland in die Türkei zurückbeordert. Gänzlich geschlossen wurden über 1.000 Privatschulen und 15 Universitäten.

Wir hier und die türkischen Hochschulen

Gerade im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sieht die Regierung offenbar einen Hort kritischen, freien Denkens, der eingehegt werden soll. Schon vor dem Putschversuch häuften sich Berichte über die Verfolgung von Akademiker_innen. So wurde gegen über 500 Personen ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil sie einen Friedensappell unterzeichnet hatten. Generell herrscht ein Klima an den Hochschulen, in dem schon dezente Kritik an der Regierung zur Denunzierung und Entlassung von Dozierenden führen kann und wo kritische Studierende beklagen, systematisch von Regierungsanhänger_innen bedrängt zu werden.

Zumindest stehen wir, als Hochschulangehörige, nicht ganz ohnmächtig der Repression im türkischen Hochschulbereich gegenüber. Durch unsere Kontakte zu türkischen Universitäten und Wissenschaftler_innen, aber auch durch unsere eigenen Strukturen können wir zumindest ein wenig Solidarität mit den Betroffenen zeigen. Wir begrüßen es daher, dass das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie die Präsidien der hessischen Hochschulen gegen die Säuberungen an den türkischen Hochschulen protestieren (siehe hier). Allerdings halten wir die angedachten Maßnahmen bei Weitem für nicht ausreichend.

So heißt es in der Erklärung, dass man die Kooperationen mit türkischen Hochschulen soweit wie möglich fortsetzen wolle. Nichts erfahren wir darüber, ob und wie man die Beziehungen nutzen möchte, um nachdrücklich gegen die Säuberungen zu protestieren. Dies muss auch den Abbruch von Kooperationsbeziehungen zumindest in Betracht ziehen und ggf. als Androhung beinhalten, wenn es nicht nur bei einer symbolischen Geste bleiben, sondern wirklich Druck zugunsten der betroffenen Kolleg_innen ausgeübt werden soll. Ferner wird nichts darüber ausgesagt, wie man den Betroffenen konkret zu helfen gedenkt.

Wie konsequente Hilfe aussehen könnte

Als Zusammenhang von Hochschulangehörigen, der sich ernstlich um die Kolleg_innen und Kommiliton_innen, aber auch um den Fortgang freien, kritischen Denkens in der Türkei sorgt, erwarten wir deutlich mehr Solidarität seitens der hiesigen Hochschulen. Die Leitung der Goethe-Universität, die selbst zahlreiche Kooperationen – insbesondere in Form von Erasmus-Programmen – mit türkischen Universitäten unterhält, fordern wir daher auf, umgehend folgende Maßnahmen zu ergreifen.

• Die Goethe-Universität im Allgemeinen und ihre Koordinator_innen von Kooperationen mit türkischen Universitäten im Besonderen machen von ihren Kontakten zu türkischen Wissenschaftsinstitutionen Gebrauch, um gegen die Säuberung in den türkischen Universitäten zu protestieren, und drohen notfalls mit dem Abbruch von Kooperationen, sollte eine zufriedenstellende Reaktion ausbleiben. Ferner setzt sich die Universität dafür ein, dass andere Hochschulen diesem Beispiel folgen.

• Die Goethe-Universität bietet ein Wissenschaftsasyl an, das heißt, sie ermöglicht türkischen Akademiker_innen und Studierenden, die vor Repressionen aus der Türkei fliehen bzw. in diese nicht zurückkehren wollen, zu unkomplizierten Bedingungen ihre Forschung bzw. ihr Studium hier fortzusetzen. Ferner setzt sich die Universität dafür ein, dass auch andere Hochschulen dies anbieten, und dass das Land Hessen die ggf. benötigten Gelder dafür zur Verfügung stellt.

Was sonst noch zu tun wäre

Wir weisen ferner darauf hin, dass nicht nur Kolleg_innen und Kommiliton_innen aus der Türkei von den neuerlichen Entwicklungen betroffen sind, sondern dass diese auch Konsequenzen für einige Studierende der Goethe-Universität haben können. Wir erwarten daher von der Universitätsleitung, dass sie diesem Umstand Rechnung trägt und den Betroffenen folgendermaßen entgegenkommt:

• Für Studierende der Goethe-Universität, die gerade an türkischen Universitäten zugegen waren oder sind, und aufgrund der politischen und personellen Veränderungen dort ihre Leistungsnachweise nicht erhalten können oder ihren Auslandsaufenthalt abbrechen müssen, werden Kulanzregelungen eingeführt, die gewährleisten, dass den Betroffenen keinerlei Nachteile entstehen und die Nachholung von etwaig erforderlichen Leistungen nicht nötig ist.

Schließlich sollte der sich fortsetzende Trend zum Autoritarismus innerhalb und außerhalb Europas auch dazu anhalten, über die vorherrschende Wissenschaftspolitik nachzudenken. Mit der neoliberalen Ausrichtung der Hochschule und der Marginalisierung kritischer Wissenschaft trägt auch die Universität dazu bei, dass autoritäre Tendenzen in der Gesellschaft weiter Raum greifen bzw. diesen nichts entgegenzusetzen ist. Dass die so oft als wertlos gescholtene kritische Wissenschaft eben doch bitter notwendig ist, erschließt sich allein aus einem Blick auf die anhaltende Entwicklung zum Autoritarismus.

Die Universität sollte aus dieser Entwicklung endlich Konsequenzen für die Lehr- und Forschungsinhalte ziehen. Dies würde bedeuten, gezielt kritische Wissenschaft zu stärken, die sich mit dem politischen und sozialen Regress beschäftigt, der sich letztlich auch negativ auf die Freiheit der Wissenschaft auswirkt. Und in Konsequenz würde sich die Universität darum bemühen, dass entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse in gesellschaftspolitische Debatten eingebracht werden. Ein derart ausgerichtet Hochschule würde ihren Beitrag dazu leisten, dass die oben skizzierten Solidaritätsmaßnahmen gar nicht erst nötig wären.

Öffentlichkeitskomitee | unter_bau