Looking back. Over my shoulder – Bericht vom unter_trip

Vom 31. März bis zum 7. April 2018 reisten sieben Mitglieder von Unter_bau durch Frankreich. Im Zentrum der als Bildungsurlaub konzipierten Reise stand der Austausch mit Genoss*innen der CNT-F (Confédération Nationale du Travail-Vignoles) in Marseille und Paris. Zudem trafen sich unsere Mitglieder mit einigen Organisator*innen der Studierendenproteste in Paris. Der folgende Bericht gibt einen Einblick in die verschiedenen Stationen und Erfahrungen.

 

Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Ligurien fuhren wir an Dienstag nach Marseille. Dort wurden wir von Genoss*innen der CNT-F in Empfang genommen und wohnten am Abend  ihrer Vollversammlung bei. Am nächsten Tag nahmen wir zunächst an einer Demonstration der Eisenbahner*innen teil, die im Rahmen umfassender Streikmaßnahmen stattfand. Der Grund für den Streik ist die geplante Privatisierung der Eisenbahn, in deren Zuge hart erkämpfte Arbeitsstandards, wie z.B. ein früheres Renteneintrittsalter, abgeschafft werden sollen. Die Demo zog ohne jegliche polizeiliche Begleitung durch die Stadt. Im Vergleich zu Demonstrationen in Deutschland verlief die Demo dennoch konfrontativer. Gegen Ende  stürmten die Eisenbahner*innen ein Handelszentrum in der Stadtmitte, um vor der dortigen EU-Vertretung ihren Ärger über die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU, die die Grundlage für Macrons Reformen bildet, kundzutun.

Am Nachmittag besichtigten wir eine selbstverwaltete Teefabrik in Aubagne, einem Außenbezirk von Marseille. Glücklicherweise hielt sich zum Zeitpunkt unseres Besuchs eine deutschsprachige Anthropologin in der Teefabrik auf. Dank ihrer ausführlichen Führung durch die Fabrik konnten wir einen tiefen Einblick in die Geschichte und die Struktur der Fabrik erhalten. Als die Fabrik 2010 geschlossen und die Produktion ins Ausland verlagert werden sollte, beschloss die Belegschaft, die Fabrik zu besetzen. Nach einer 1336 Tage dauernden Besetzung und mehreren gerichtlichen Auseinandersetzungen gelang es den Besetzer*innen, die Fabrik unter genossenschaftliche Verwaltung zu stellen. Seitdem entscheidet eine Vollversammlung der Arbeiter*innen über alle relevanten Fragen (Ausrichtung der Produktion, Höhe der Löhne etc.) und die Fabrik produziert unter der Eigenmarke „Scopti“.

An Donnerstagabend erreichten wir Paris. Hier wurden wir vom internationalen Sekretär der CNT-F Paris erwartet. Die Nacht verbrachten wir bei Genoss*innen der CNT-F. Am nächsten Tag besuchten wir zwei besetzte bzw. bestreikte Universitäten in Paris, nämlich Vincennes-Saint-Denis (Paris 8) und Tolbiac (Paris 1). Die beiden Universitäten waren zum Zeitpunkt unseres Besuchs die einzigen Universitäten in Paris, die besetzt waren. Jedoch wurden auch in anderen Städten Unigebäude besetzt, etwa in Montpellier. Die Proteste richten sich gegen Macrons Hochschulreform, in deren Zuge der Zugang zu Hochschulen kompetitiver gestaltet werden soll. Universitäten sollen in Zukunft das Recht haben, Studierende anhand von Motivationsschreiben und Schulnoten auswählen zu können. Dies würde u.a. eine strukturelle Benachteiligung von Studierenden aus ärmeren Verhältnissen zur Folge haben.

In Vincennes-Saint-Denis nahmen wir an einer Vollversammlung teil, in der diskutiert wurde, ob der Streik fortgeführt werden sollte. Die Vollversammlung fand in einem großen Hörsaal statt, der komplett voll war. Nach einer intensiven, teils chaotischen Debatte entschieden sich die Studierenden für die Fortführung der Besetzung. In Tolbiac führten wir ein ausführliches Gespräch mit einer Mitorganisatorin der Besetzung. Die Besetzer*innen haben eine provisorische Küche eingerichtet und nutzen einen Hörsaal als Schlafsaal. Eine regelmäßig tagende Vollversammlung hat einen Regelkatalog beschlossen, der für den besetzten Teil der Uni gilt. Probleme bestanden etwa bei der Einbindung von Securities, die sich auf dem besetzten Gebiet aufhalten. Die Studierenden versuchen, die Securities in ihre basisdemokratischen Strukturen einzubinden und so auf eine wechselseitige Solidarisierung hinzuwirken. Jedoch fällt es oft schwer, Misstrauen abzubauen, da die Securities wichtige Informationen an die Unileitung weitergeben könnten.

An unserem zweiten und letzten Abend in Paris stand ein Gespräch mit Genoss*innen aus der Bildungssektion der CNT-F Paris auf dem Programm. In einer Runde von ca. 12 Personen diskutierten wir vor allem über die strategische Ausrichtung von Unter_bau und CNT-F Paris. Die Genoss*innen zeigten großes Interesse am Konzept einer Hochschulgewerkschaft und bisherigen Bildungskämpfen in Deutschland. Gleichzeitig verdeutlichten sie, dass die Arbeitsbedingungen an französischen Hochschulen nicht so prekär sind wie an deutschen, da die meisten wissenschaftlich und administrativ-technisch Mitarbeitenden verbeamtet sind. Dementsprechend führen die Genoss*innen der Bildungssektion vor allem Kämpfe im Bereich der schulischen Bildung. Zuletzt waren hier Genoss*innen an der Besetzung einer Privatschule in einem Pariser Außenbezirk beteiligt. Differenzen zwischen Mitgliedern von CNT-F und Unter_bau ergaben sich etwa bei der Frage, ob sich Securities bei uns gewerkschaftlich organisieren sollten. Die CNT-F Paris lehnt eine solche Organisierung ab, da die Funktion von Securities im Ernstfall darin besteht, gewerkschaftliche Kämpfe zu unterbinden. Demgegenüber betonten wir, dass die Arbeitsbedingungen von Securities oftmals sehr prekär sind und es daher einen hohen Bedarf an gewerkschaftlicher Organisierung gibt.

Es war beunruhigend zu sehen, in welcher Häufigkeit sich Genoss*innen in Frankreich faschistischen Angriffen ausgesetzt sahen. Das Gewerkschaftslokal der CNT-F in Marseille wurde wenige Wochen vor unserem Besuch von Faschist*innen verwüstet. Am Abend nach unserem Besuch in Tolbiac wurden die Besetzer*innen von vermummten Personen mit Schlagstöcken angegriffen. Sie konnten sich zum Glück erfolgreich verteidigen und es gab nur wenige Verletzte. In Montpellier kam es bereits vorher zu einem ähnlichen Vorfall. Hier wurde ein besetzter Hörsaal gestürmt. Der Dekan der Jura-Fakultät und ein weiterer Professor wurden daraufhin suspendiert. Studierende erheben gegen den Dekan den Vorwurf, die Angreifer*innen an die Uni geholt zu haben[1].

Ebenfalls irritiert hat uns der an einigen Stellen (Veranstaltungsankündigungen, Kleidung etc.) sichtbare Bezug auf den Nahostkonflikt bei unseren französischen Genoss*innen und die einseitige Parteinahme gegen Israel (beispielsweise durch die Unterstützung der BDS-Kampagne). Als Mitglieder des Unter_baus ist für uns die länderübergreifende Solidarität der Arbeitenden gegenüber den sogenannten Arbeitgebern elementar. Die entscheidende Grenze verläuft nicht zwischen Ländern, sondern zwischen den Klassen.

Es war spannend, einen kurzen Einblick in die Basisgewerkschaftsarbeit in Frankreich zu erhalten. Wir haben engagierte und interessante Menschen kennengelernt, die hilfsbereit und herzlich zu uns waren und die wir gerne wiedersehen wollen.


Anmerkungen

[1] Siehe Der Standard (29.03.2018): Professoren nach Gewalt an Hochschule suspendiert. https://www.derstandard.de/story/2000077030413/professoren-nach-gewalt-an-franzoesischer-hochschule-suspendiert