Kommentar zur Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum Tarifeinheitsgesetz

Kommentar zur Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum Tarifeinheitsgesetz

Das durch die Rechtsprechung vergleichsweise restriktiv ausgelegte deutsche Streikrecht wurde mit dem Tarifeinheitsgesetz weiter gesetzlich beschnitten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das Gesetz in seinem Urteil vom 11.07.2017 nun weitestgehend abgesegnet. Dass eine solche gesetzliche Regelung ausgerechnet einem SPD-geführten Arbeitsministerium und auf gemeinsame Initiative des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeber (BDA) gelang, ist besonders dramatisch.

Die Initiative zum Tarifeinheitsgesetz

Vor dem Hintergrund einer ohnehin schon schwach ausgeprägten Streikkultur veröffentlichten DGB und BDA gemeinsam – in Reaktion auf die wachsende Konkurrenz durch kleinere Gewerkschaften wie der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL), cockpit oder den Marburger Bund – einen Gesetzesvorschlag zur Tarifeinheit. Das Prinzip der Tarifeinheit sieht vor, dass in einem Betrieb bzw. Unternehmen immer nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern Anwendung findet. Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam gegen Streiks – mehr Sozialpartnerschaft geht kaum. Natürlich dürfen die teils heftigen Gegenreaktionen innerhalb des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften nicht unterschlagen werden. Dennoch ist diese gemeinsame Initiative – die zur Verabschiedung eines (im Vergleich zum DGB/BDA-Vorschlag sogar noch leicht abgeschwächten) Tarifeinheitsgesetzes Anfang 2015 führte – Teil eines Diskurses, in welchem die deutschen Gewerkschaften die einstmals hart erkämpften Rechte selbst mit zur Disposition stellen. So folgt auch die Initiative zur Tarifeinheit dem Credo der Sicherung der „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“. Der Einwurf, das neue Gesetz restauriere lediglich das bereits bis 2010 geltende Prinzip der Tarifeinheit, ist insofern nicht überzeugend, als die veränderte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der veränderten Gewerkschaftslandschaft und der verstärkten Aktivität der vorher zumeist nur als Berufsverbände aufgetretenen Spartengewerkschaften geschuldet war. Die neue Regelung der Tarifeinheit geht also über die Restauration des Status quo bis 2010 hinaus, da sie nun von den gewerkschaftlichen Akteuren neu erschlossene Handlungsspielräume restriktiv gesetzlich normiert.

Die Entscheidung des BVerfG: Weiter gesetzgeberischer Entscheidungsspielraum für schwerwiegende Grundrechtseingriffe

Ebenso unverständlich wie diese Initiative bleibt die Entscheidung des BVerfG, welches in seinem Urteil das Gesetz als überwiegend verfassungskonform wertet. Ziel des Gesetzes soll die Verhinderung „rein eigennützigen, strukturell unfairen Aushandeln[s] von Tarifverträgen von Arbeitnehmerinnen […] mit Schlüsselposition sowie einer hierdurch drohenden Entsolidarisierung innerhalb der Arbeitnehmerschaft“ sein. Dass das Gesetz tatsächlich gerade auf GDL und Co. als Konkurrenz zum DGB und auf aus Arbeitgebersicht besonders unangenehme, weil gut organisierte und effektiv streikende Koalitionen abzielt, scheint für das BVerfG nebensächlich. Während der „Schutz von Unternehmen und Öffentlichkeit“ immerhin noch als gesetzgeberisches „Motiv“, vorkommt (Rn.139), bleibt das Interesse des DGB an dem Gesetz unbesprochen. Zumal die GDL sich zuletzt gerade nicht als Gewerkschaft einer bestimmten Berufsgruppe, sondern als berufsgruppenübergreifende Koalition profiliert. Und genau dieses Vorgehen war letztlich konkreter Anlass der gemeinsamen Initiative von DGB und BDA. Den Entstehungskontext des Gesetzes soweit auszublenden, ist nicht nachvollziehbar, zumal das BVerfG durchaus erkennt, dass der Regelungsgehalt des Gesetzes gerade auch das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander betrifft (vgl. Rn. 148 f., 203).[1] Ziel des Gesetzes ist es demnach, „Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen“ (Rn. 153). Dass diese Anreize primär in Richtung der kleineren Gewerkschaft wirken sollen, dürfte klar sein.
Bemerkenswert ist, wie das BVerfG zur Wertung der überwiegenden Verfassungsmäßigkeit kommt. Der von den Klägern als verfassungswidrig angegriffene § 4a TVG regelt nun u.a., dass nur der Tarifvertrag der im jeweiligen Betrieb mitgliedsstärksten Gewerkschaft anwendbar ist. Daraus folgt, dass der Tarifvertrag der Minderheitengewerkschaft keine Anwendung findet. Da das deutsche Arbeitskampfrecht vollständig auf den Tarifvertrag ausgerichtet ist, also nur diejenigen kämpferischen Maßnahmen, welche auf den Abschluss eines Tarifvertrags abzielen, als zulässig erachtet, wird die kleinere Koalition durch diese Regelung praktisch handlungsunfähig. Nun gäbe es, wenn man denn eine solche Regelung unbedingt will, die Möglichkeit, den Arbeitskampf von tarifvertraglichen Zielen zu entkoppeln, um so den Handlungsspielraum kleinerer gewerkschaftlicher Akteure zu wahren. Das BVerfG wählt einen anderen Weg: Das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften bleibt nach Auffassung des Gerichts unangetastet. Diese könnten ihren Arbeitskampf weiterhin auf den Abschluss eines Tarifvertrages richten, auch wenn bereits klar sei, dass dieser aufgrund der Neuregelung des TVG nicht anwendbar ist (Rn. 140). Eingriffe in die Koalitionsfreiheit kann das Gericht nur darin erkennen, dass der abgeschlossene Tarifvertrag nicht zur Geltung kommt (Rn. 135). Außerdem könne das Gesetz „grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen“ entfalten (Rn. 136). Das Gericht benennt Probleme bei der Mitgliederwerbung und der Mobilisierung der Mitglieder für Arbeitskämpfe sowie die Beeinflussung von tarifpolitischer Ausrichtung und Strategie als mögliche beeinträchtigende Vorwirkungen (ebd.; 167 ff.). Damit betreffen die vom Gericht antizipierten Gesetzeswirkungen gerade die praktische Streikfähigkeit der Koalitionen. Wenn das BVerfG das Streikrecht dennoch als „unangetastet“ wertet, bedeutet dies eine materielle Entleerung desselben. Denn wie eine gesetzliche Regelung, welche die praktische Fähigkeit zum Streik beschränkt sowie die tarifpolitische Strategie beeinflusst, das Recht auf Streik unberührt lassen kann, erklärt das Gericht nicht. Bedeutsam ist auch, dass das BVerfG gar nicht argumentiert, es gebe bereits eine reale Gefährdung der Tarifautonomie durch konkurrierende Gewerkschaften. Der Gesetzgeber habe hier auch soweit einen weiten Einschätzungsspielraum, als er „drohende Funktionsstörungen“ antizipierend regeln könne (Rn.165). Dem Gesetzgeber wird so große Freiheit für schwerwiegende Grundrechtseingriffe eingeräumt.

Vorgaben des Gerichts zur Abmilderung der belastenden Wirkungen

Um die belastenden Wirkungen des Gesetzes abzumildern, gibt das BVerfG allerdings eine teilweise restriktive Auslegung vor und verweist zudem auf die bereits bestehenden gesetzlichen Kollisionsegeln (Rn. 172 ff.). So sei etwa das Arbeitsgerichtsverfahren so auszugestalten, dass die durch das Gesetz u.U. verpflichtende Offenlegung der Mitgliederstärke nicht notwendig den gegnerischen Parteien gegenüber erfolgen müsse (Rn. 147, 197 ff.). Zudem sollen etwa tarifvertraglich garantierte Leistungen besonderer Qualität nicht verdrängt werden (Rn. 173). Dies sind erfreuliche Korrekturen des Gesetzes – auch wenn sie viel zu vage bleiben. Um die Interessen derjenigen zu wahren, die von der Mehrheitsgewerkschaft nicht hinreichend vertreten werden, gibt das BVerfG dem Gesetzgeber zudem auf, eine entsprechende Regelung zu treffen (Rn. 203 ff.). Überlegungen dazu, wie die Überwindung einer strukturellen Nichtwahrung von Interessen geregelt werden könnte, stellt das BVerfG aber nicht an (vgl. Rn. 205). Dies wäre aber, sollte diese Vorgabe ernst gemeint sein, begrüßenswert gewesen. Denn eine solche Regelung wird nicht ganz leicht umzusetzen sein angesichts der strukturellen Probleme der großen Gewerkschaftsapparate.
Die tatsächlichen Auswirkungen des Gesetzes sind wohl noch nicht vollständig absehbar und werden von den verschiedenen Akteuren recht unterschiedlich eingeschätzt. Das BVerfG hätte jedoch ernsthafter den möglichen Gefahren des Gesetzes nachgehen müssen – zumal selbst Akteure wie der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA), die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und die Bundesnotarkammer verschiedenste Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes äußern bzw. Probleme bei der Durchsetzung seiner Regelungen befürchten (Rn. 88 ff.).

Abweichende Meinung der Richter/innen Paulus und Baer

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch die abweichende Meinung von Richter Andreas Paulus und Richterin Susanne Baer. Demzufolge unterschätzen ihre Kollegen „die tatsächlichen Belastungen und Gefahren für die grundrechtlich garantierte Freiheit der Gewerkschaften“ und überschätzten gleichzeitig die gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume (Rn. 1). Insbesondere äußern Paulus und Baer Zweifel an der in der Gesetzesbegründung dargelegten Darstellung der eine gesetzlichen Regelung notwendig machenden Faktengrundlage. Die Zeichnung der sozialen Realitäten und Kausalitäten sei teilweise unplausibel (Rn.7 ff.). Somit sei auch die verfassungsrechtliche Wertung fehlerhaft (Rn. 13 ff.). Zudem betonen sie auch die grundsätzliche, freiheitliche Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 GG, wonach auch die Pluralität der Interessen geschützt ist und verweisen auf deren zunehmende Bedeutung angesichts massiver struktureller Veränderungen von Erwerbsarbeit (Rn. 19). Die m.E. näher an der sozialen Realität argumentierende Auffassung konnte sich aber offensichtlich nicht durchsetzen.

Zentrale Probleme und Konsequenzen des Urteils

Problematisch an der Entscheidung sind m.E. insbesondere folgende Punkte:

  1. Das BVerfG stellt bei der Feststellung des Gesetzeszwecks ausschließlich auf den Text des Gesetzesentwurfs ab, anstatt die Entstehungsgeschichte miteinzubeziehen. Nur so kann ihm entgehen, dass es hier gerade auch darum geht, die Interessen des DGB und der Arbeitgeberverbände gegenüber kleineren Gewerkschaften zu sichern.
  2. Das BVerfG kann nicht plausibel machen, wie eine Gewerkschaft wirksam für einen Tarifvertrag, von dem von vorneherein klar ist, dass er nicht gelten wird, kämpfen soll.
  3. Der Prognosespielraum der Gesetzgebung wird vom Gericht denkbar weit gefasst. So steht es dem Gesetzgeber frei, Funktionsstörungen zu antizipieren, ohne eine solche Gefährdung darlegen zu müssen. Gerade weil an dem Gesetz große Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, nicht aber die kleineren Akteure, in deren Grundrechte eingegriffen werden soll, beteiligt waren, wäre eine solche Gefährdung aber plausibel zu machen.
  4. Überdenkenswert ist schließlich auch das generelle Koalitions- und Streikverständnis des BVerfG. Im deutschen arbeitsrechtlichen Diskurs fehlt generell jegliches über das Tarifsystem hinausgehende Verständnis der Koalitionsfreiheit, die zudem in ihrem demokratietheoretischen Gehalt verkannt wird. Denn Streiks und die Organisierung der Lohnabhängigen sind auch als demokratisch-solidarische Praktiken zu deuten, die sich nicht auf ihre Funktionalität für die Tarifpolitik beschränken lassen. Vielmehr eröffnen gewerkschaftliche Praktiken potentiell Räume, in denen individuelle und kollektive Autonomieausbildung praktisch möglich wird.

Dennoch sind die Konsequenzen des Gesetzes noch nicht abzusehen. Es schließt einige wichtige gewerkschaftliche Handlungsspielräume. Wie aber die Arbeitsgerichtsbarkeit, der vom BVerfG eine restriktive Auslegung aufgebenden wird, damit umgehen wird, ist noch nicht ausgemacht. Angesichts der zunehmenden Schwäche der großen Gewerkschaften könnten sich außerdem gerade für kleinere Akteure auch strategische Vorteile ergeben. Sollte das Gesetz dann doch unerwartet zu einer größeren Solidarität der Gewerkschaften untereinander beitragen (wie das etwa Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles behauptet), wäre das zu begrüßen.

Von Marie Diekmann (Frankfurt/ Main)

Einige Passagen des Texts entstammen dem gemeinsam mit Pascal Annerfelt verfassten Aufsatz „Einheitsgewerkschaft oder Gewerkschaftsvielfalt? Plädoyer für das Streikrecht und gegen das Gesetz zur Tarifeinheit.“, in: Forum Recht 2/17 (im Erscheinen).
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Anmerkungen:

[1] Die Randnummern beziehen sich auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum Tarifeinheitsgesetz bzw. zur angehängten abweichenden Meinung.